Die Verbreitung der englischen Sprache in der Welt begann im 12. Jahrhundert mit der
Kolonialisierung Irlands. Der englische Imperialismus im 18. und 19. Jahrhundert
verpflanzte das Englische als Sprache der Kolonisatoren in alle Erdteile. Diese
Verpflanzungen geschahen zum größten Teil gewaltsam. Die Kolonialherren zwangen ihre
Untertanen, ihre Muttersprache aufzugeben und das Englische anzunehmen. Daher gibt es
heute ebenso viele Sprecher des Englischen wie Muttersprachensprecher des Chinesischen.
Wie hinlänglich bekannt, ist Englisch gegenwärtig die wichtigste Verkehrs- und
Handelssprache der Welt. Im Zuge des Postkolonialismus und der Aufarbeitung der
Auswirkungen der gewaltsamen Verpflanzung des Englischen in Übersee sind die Varianten
des Englischen in Nordamerika, Südafrika, Australien, Neuseeland und Indien gut
erforscht. Die Ausgliederung des Englischen in den alten europäischen Kolonien ist jedoch
bis auf wenige Ausnahmen unerforscht. Daher war es das Ziel eines Potsdamer
Pilot-Kolloquiums, die Varietäten der englischen Sprache, die in den keltischen Ländern
gesprochen werden, darzulegen. Auch wollte man erstmals das Bewußtsein eines
Forschungsdefizites wecken.
So ging es der Organisatorin des Kolloquiums "The Celtic Englishes", Prof.
Dr. Hildegard L.C. Tristram aus dem Institut für Anglistik und Amerikanistik, sowie den
13 Referenten und 21 offiziellen Gästen aus 14 Ländern und Regionen zunächst darum, den
aktuellen Forschungsstand zu ermitteln. Künftige Forschungsstrategien schlossen sich an
und wurden im Rahmen des vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie von
privaten Sponsoren geförderten Kolloquiums zum Teil auch gleich umgesetzt.
Insgesamt kam deutlich zum Ausdruck, daß sich die Varietäten der englischen Sprache, die
in den keltischen Ländern gesprochen werden, in erheblichem Maße vom Standardenglischen
und auch von den Erbdialekten des Englischen unterscheiden. Einerseits bewahren sie
aufgrund des sogenannten colonial lag, d.h. der kolonialen Verzögerung, sprachliche Züge
des Englischen, so wie es vor 300 oder 400 oder 700 Jahren gesprochen wurde, als das
Englische die keltischen Sprachen verdrängte. Andererseits ist dieses Englisch in
verschiedenem Maße von den einheimischen keltischen Sprachen beeinflußt.
Der Grund dafür, daß die keltischen Varietäten des Englischen, die praktisch von der
gesamten Bevölkerung gesprochen werden, im Gegensatz zu den keltischen Sprachen
vergleichsweise unerforscht sind, wird in folgendem Zusammenhang gesehen: Die Identität
der keltischen Länder ist in den keltischen Sprachen angesiedelt, d.h. in den Sprachen,
die heute fast niemand mehr spricht und die künstlich am Leben gehalten werden. Die
Identität wird aber nicht an den auffällig markanten Eigenarten des Englischen
festgemacht. Schulzielsprache ist trotz aller offiziellen postkolonialten Ablehnung immer
noch das Englische der gebildeten Engländer, nicht das der gebildeten Iren, Waliser oder
Schotten. Man gilt heute immer noch als gebildet oder wirtschaftlich erfolgreich, wenn man
so spricht wie Engländer. Die regionalen Varianten des Englischen in den keltischen
Ländern sind jedoch selbst bei Politikern so markant, daß sie ohne weiteres als
identitätsstiftend angesehen und akzeptiert werden könnten, wenn sich ein entsprechendes
Bewußtsein entwickelt hätte.
Die Teilnehmer des Kolloquiums konnten sprachliche Gemeinsamkeiten aller keltischen
Varietäten des Englischen in ihrer Abweichung vom Standardenglisch auf mehreren
linguistischen Ebenen feststellen: auf der Ebene des Vokabulars, in der Grammatik, in der
Idiomatik und, auf der lautlichen Ebene, vor allem in der Satzmelodie. Inwieweit diese
Eigenarten im eigentlichen Sinne "keltisch" sind, d.h. auf ein keltisches
Substrat zurückgehen, oder aber auf dem historischen Englisch der Zeit der
Kolonialisierung oder auf beidem basieren, ist bisher noch unerforscht.
Vor dem Potsdamer Kolloquium bestand das Bewußtsein von Gemeinsamkeiten der verschiedenen
Varietäten des Englischen in den keltischen Ländern nur bei wenigen Forschern. Diese
haben in der Regel primäre Kenntnisse nicht nur in den regionalen Varietäten des
Englischen sondern auch in der jeweiligen keltischen Sprache (Irisch, Walisisch,
Schottisch-Gälisch, Kornisch oder Manxisch). Die Normalsprecher keltischer Varietäten
des Englischen sind sich der Keltizität ihrer Sprache nicht bewußt. Sie wissen nur, daß
ihre Sprache auffällig vom Standardenglischen abweicht, und sie bewerten sie in der Regel
niedriger als das Standardenglische. Die eigene Regionalsprache wird in der Regel nicht
als prestigehaltig und identitätsstiftend empfunden.
Am schlechtesten ist es um Schottland bestellt, vor allem um die Erforschung des
Englischen im schottischen Hochland. Die von den Referenten aus Kanada vorgestellte
Forschungssituation spiegelte diejenige von Irland und Schottland wider. In Neufundland
sind viele Iren eingewandert. Durch Irisch beeinflußtes Englisch ist eine der
Hauptvarietäten der Insel. Doch auch diese ist nur anekdotisch und punktuell untersucht,
keinesfalls aber systematisch. In Cape Breton haben viele Schotten gesiedelt. Ihr Englisch
klingt hörbar wie dasjenige im schottischen Hochland. Doch auch dieses ist praktisch noch
unerforscht. - Stoff genug also, um dem Potsdamer Pilot-Kolloquium weitere Treffen folgen
zu lassen.
|